Dr. Volkmar Schmidt verliest die Grußadresse von Franz Gnädinger:
 
 
 


Franz Gnaedinger, Grussbotschaft an die Zirkumferenz: Bedeutung des Kreises vom Paläolithikum über das alte Ägypten, Babylon, Griechenland, Italien im Mittelalter und in der Renaissance



 
 
 

Liebe Pi-Freunde, verehrte Gäste

 

Wozu ein Pi-Klub? Auf diese Frage gibt es launige und ernsthafte Antworten. Hier soll eine weitere seriöse Antwort gegeben werden: Der Kreis mit seiner geheimnisvollen kleinen Zahl verbindet Zeiten und Völker.

 

Die eminente Archäologin Marie E.P. König erforschte die paläolithischen Gravuren in Höhlen der Ile de France (Paris und Umgebung). Sie verweist in ihren schönen Büchern auf die Bedeutung von Quadraten, Kreuzen, Gittern und kreisähnlichen Rundformen. Ihrer Meinung nach symbolisieren die Rundformen den Himmel, die Achsenkreuze die Himmelsrichtungen Osten-Westen und Süden-Norden, während die bisweilen mit Rundformen kombinierten Gitter "Himmelshäuser" darstellen.

 

In den neolithischen Kulturen des Mittelmeerraumes dürfte es einen neolithischen Schöpfungsritus gegeben haben, bei welchem eine Priesterin der grossen Muttergöttin ihre Arme über den Kopf hob, zuerst als geschlossenen Kreis, wonach sie die Arme öffnete und so gewissermassen die Erschaffung der Welt aus dem Weltei wie auch Geburt und Wiedergeburt symbolisierte. Der hypothetische Ritus dürfte im vordynastischen Ägypten besonders beliebt gewesen sein.

 

Bis vor rund 7'500 Jahren war der ägyptische Teil des Niltales eine rauhe und gefährliche Gegend, dominiert von einem "zornigen Fluss" (Rushdi Said). Als jedoch die einst grünere Sahara nach und nach austrocknete, siedelten Stämme aus Nubien, Libyen, Arabien und Syrien im ägyptischen Niltal an, zähmten den wilden Fluss mit Kanälen, Dämmen, Deichen und Wasserbecken, und verwandelten so die 600 Kilometer lange Wüstenoase in einen blühenden Garten - immer bedroht von der Nilschwelle, die einmal ausblieb, ein andermal die Felder wegschwemmte.

     Als Zeichen ihres Triumphes liessen die Pharaonen der 3. und 4. Dynastie ihre grossen Pyramiden erbauen, welche den irdischen Osiris, nämlich den Nil, mit dem himmlischen Osiris, nämlich Orion, verbanden. Ein würdiger König sollte nach seinem Tod als Osiris auferstehen und vom Himmel herab für sein Volk sorgen. Zugleich war ein vergöttlichter König der Sonnengott Re, der in seiner Sonnenbarke über den Himmel zog. Die Hieroglyphe des Re war ein kleiner Kreis als Symbol der Sonnenscheibe. Allerdings verstanden die Ägypter jede Eigenschaft einer Person bis hin zur Körperfarbe und zum Schatten als einen Anteil ihres Wesens. Der Kreis war deshalb mehr als ein Bild der Sonnenscheibe: er war Re selber, und seiner geheimen Zahl auf die Schliche kommen war deshalb ein Weg, um an der Macht und Herrlichkeit Res teilzuhaben.

     Die Schule des genialen Architekten Imhotep und vor allem Hemon, der mögliche Erbauer der Cheops-Pyramide, dürften das erste systematische Verfahren der Kreisberechnung gefunden und entwickelt haben. Die Schlüsselfigur dieses Verfahren basiert  auf dem sog. Heiligen Dreieck mit den Seitenlängen 3, 4 und 5 Ellen in einem Gitter von 10 mal 10 Ellen. Eine kurze Darstellung dieses Verfahrens finden Sie in der aufgelegten Broschüre.

 

Um 1650 vor Christus schrieb ein gewisser Ahmes den berühmten Papyrus Rhind, als Kopie einer verlorenen Schriftrolle aus der Zeit um 1850 vor Christus. Am Beginn seiner Kopie verspricht Ahmes Einblick in alle Geheimnisse. Danach folgen relativ simple Rechnungen, welche die meisten Leser enttäuschen. War Ahmes ein Hochstapler? Nein. Vielmehr kann man seine Aufgaben auf drei Ebenen lösen: Anfänger üben das Rechnen mit Stammbrüchen; Fortgeschrittene lösen geometrische Aufgaben, die sich in den Zahlen verstecken, und die Begabtesten üben sich an Theoremen. In der aufgelegten Broschüre finden Sie eine witzige Aufgabe aus dem Papyrus Rhind (Nummer 32, ein magischer Quader), zudem eine Verwandlung des quaderförmigen Getreidemasses Hekat in einen Zylinder (Nummer 38).

 

Wie der Papyrus Rhind dürften auch die in etwa zeitgleichen mathematischen Tontäfelchen aus Babylon "Schulbücher" in der allerdichtesten Form gewesen sein, und wie im ägyptischen Beispiel geht es oft um Kreise.

 

Kreise spielen auch bei mehreren griechischen Plastiken eine Rolle, etwa bei dem berühmten Poseidon vom Kap Artemision.

 

Wilhelm Pötters beruft sich auf das mittelalterliche Deus est sphaera - das Göttliche oder Gott selber ist in der vollkommenen Form der Kugel anwesend. Pötters zeigt auf höchst überzeugende Weise, wie die metrische Form der poetischen Gattung Sonett aus einem in ein Rechteck umgewandelten Kreis hervorging, und er zeigt überdies, wie die geheimnisvolle Zahl, die dem Kreis innewohnt, in die grossen Werke der frühen italienischen Poesie Eingang fand.

 

Gerhard Goebel, von Hause aus Romanist, schrieb seine Habilitation Poeta Faber über erdichtete Architekturen; heute würde man sagen: virtuelle Architekturen. Goebels Vorliebe gilt Polifilos Traum. Er zeigt, dass die virtuelle Traum-Insel Kythera mit ihren Phantasie-Gebäuden auf einer klaren Geometrie basiert, und wenn man seine Ideen zur geometrischen Basis jener virtuellen Insel zusammenführt, gelangt man zu einem genialen System, das die Geometrie der Cheops-Pyramide noch einmal neu erfindet und den schönen, von Goebel ersonnenen Namen System POLIAS wohl verdient. Mehr zu seinem System in der aufgelegten Broschüre.

 

In Leonardo da Vincis Abendmahl findet sich, als ein offenbares Geheimnis im Sinne Goethes, eine Quadratur des Kreises, die freilich Jesus zugeordnet ist - als ob damit gesagt werden soll, dass nur ER das Unvereinbare verbinden kann.

 

Kreise spielen in der Malerei der Renaissance eine wichtige Rolle und erlauben in manchen Fällen die Rekonstruktion beschnittener Formate, sowie die Klärung der Frage nach dem Maler, und ob ein Bild ein Original, eine getreue Kopie oder eine freie Kopie sei, was für den Wert bisweilen einen grossen Unterschied macht. Am heutigen Tag soll ein informelles Institut für Bildanalysen und Expertisen begründet sein. Mehr im aufliegenden Ringbuch. Wer möchte, kann sich gerne an diesem informellen Institut beteiligen.

 

Das war ein recht abstrakter Überblick über eine Reihe von Themen und von Kulturen, die aus grauer Vorzeit bis in die neuere Gegenwart hinein reichen und bei aller Verschiedenheit eines gemeinsam haben: ein Streben nach Höherem, das im Kreis ein gültiges, ebenso einfaches wie ewig unergründliches Symbol findet.

 

Noch ein Wort zur aktuellen Lage: eine faire Kulturgeschichte, welche auch die Leistungen der vorgriechischen Völker und die Beiträge der Frauen anerkennt wäre eine Vorbedingung für ein gedeihliches Zusammenleben im Rahmen einer globalen Gesellschaft.

 

Vielen Dank