Prof. Dr. Wilhelm Pötters während seines Vortrages:

Amor und Pi
Metaphorische Mathematik in der (literarischen) Kunst des italienischen Mittelalters
 
 
 




Zu den wichtigsten Meilensteinen der ersten zwei Jahrhunderte der italienischen Literatur gehören folgende poetische Schöpfungen:
.......... - die berühmteste Gedichtform der abendländischen Lyrik, das Sonett, das ca. 1220/30 von Giacomo da Lentini, dem Notar des Kaisers
...........- Friedrich II., am Hofe von Palermo erfunden wurde;
...........- die Gedichte auf Beatrice (vor allem in der Vita Nova, 1292/93) sowie die Göttliche Komödie(1307-1321) von Dante Alighieri
...........- die Gedichte auf Laura (insgesamt 366 Kompositionen des Canzoniere, 1366-1375) von Francesco Petrarca.
Diese für das Italienische als Literatursprache konstitutiven Werke handeln durchweg von einem Thema: amore, der "bittersüßen" Erfahrung der
Liebe zu einer unerreichbaren Frau.
Ein erster Hinweis auf einen möglichen inneren Zusammenhang zwischen dem Inhalt der Dichtungen und dem geometrischen Problem des
Kreises findet sich bei Dante (Vita Nova, Kap.12) in der auffälligen Selbstdefinition des Gottes Amor: "Ich bin wie der Mittelpunkt eines Kreises,
zu dem sich alle Teile des Umfangs in gleicher Weise verhalten."
Ausgehend von dieser geometrischen Bestimmung des Wesens der Liebe soll gezeigt werden, daß hinter dem poetischen Liebesdiskurs der
oben genannten Werke eine professionelle mathematische Theorie des Kreises und des Kosmos verborgen ist. Die literarisch gestaltete
Annäherung an die ewig unerreichbare donna offenbart sich dabei als Metapher der Suche nach der absoluten Wahrheit (= donna VERITAS),
genauer: als poetische Umsetzung der Approximation an den "wahren" Wert des irrationalen "Prinzips der Kreismessung" (so Dantes
Bezeichnung für  Pi,  welches als Terminus damals noch nicht geprägt war). Mit einem auf dieser allgemeinen These beruhenden
Interpretationsansatz können aus den metrischen Strukturen der o.g. Dichtungen Werte für  Pi  rekonstruiert werden, die deutlich präziser sind
als der in der Mathematik bis zum 16. Jh. geläufige Bruch  22 : 7.
Die mathematischen Resultate führen ihrerseits zu einer neuen zusammenhängenden Deutung sowohl der einzelnen Texte als auch ihres
intertextuellen Zusammenhangs.
Überdies können die Ergebnisse einer mathematischen Exegese der literarischen Werke durch einen Vergleich mit den geometrischen
Prinzipien erhärtet werden, welche im architektonischen Plan eines berühmten Bauwerks jener Zeit nachzuweisen sind: dem Oktogon der
apulischen Burg Friedrichs II, Castel del Monte (ca.1230-40).
 
 



Prof. Dr. Wilhelm Pötters